Langsamkeit

Haben Sie Zeit? Oder werden Sie schnell hektisch? Können Sie Zeit verschenken. Gar vergessen? Worin unterscheiden sich für Sie Langeweile und Langsamkeit? Wieviel Mobilität brauchen Sie wirklich? Was bedeutet Ihnen Zeitvertreib? Wann haben Sie zuletzt einen Schatten wandern sehen? Laufen Sie gelegentlich auch oder marschieren Sie nur?

Wer Zeit hat, geht nicht mit der Zeit. Die Langsamkeit als ein Kapitel Lebensart zu preisen, scheint kühn, wo nicht unbedingt als tüchtig gilt, wer sich ­ auch gedanklich ­ im Schneckentempo bewegt. Der Langsame läuft Gefahr, auf der Strecke zu bleiben.

Aber Geschwindigkeit ist nicht nur keine Hexerei, wir kommen dahinter, dass sie nicht alles sein kann. Das olympische "Höher, weiter, schneller" ist nicht das ganze Lebensmotto. Beim langsamen Walzer kann man die Zeit vergessen. Von Gott wird gesagt, dass seine Mühlen langsam mahlen, wenn auch sehr exakt. Und Oskar Loerke hat Jesus einen langsamen Mann genannt. Es war wohl eher eine Auszeichnung. Es gibt eine noch junge Philosophie. Ihr Name ist Entschleunigung. Dabei ist der Rat des Physikers und Schriftstellers Georg Christoph Lichtenberg, Zeit urbar zu machen, Jahrhunderte alt.

Haben Sie Zeit? Zeit haben heißt, eine Sache für wichtiger erachten als eine andere. Einen Tag urlangsam und ganz bewusst gestalten. Die Uhr vergessen, diesen Tyrann. Ruhen. Abschalten. Entspannen. Sich etwas gönnen. Atem holen. Zur Ruhe kommen. Die Stille vertiefen. Gut zu sich selbst sein. Zeit haben. Einen Film ansehen. Ein Gespräch genießen. Ein Gedicht lesen. Eine Partie Schach spielen. In einem Chor singen. Ein Konzert anhören. In einem Zoo bummeln. Ein Museum besuchen. Im Zirkus lachen und weinen. Brieftauben fliegen lassen. Am Motorrad schrauben. Briefmarken sammeln. Angeln. Ein Modellflugzeug bauen. In die Sterne gucken. Am Ufer dem träge wandernden Wasser nachschauen. Rosen züchten. Oder Kakteen. Zeit haben. Mitwirken. Sich einmischen. Etwas fertig bringen. Schöpferisch werden. Ein kleiner oder großer Gärtner sein. Töpfer. Bastler. Schauspieler. Maler. Fotograf. Filmer. Imker. Dichter. Tänzer. Dirigent. Und so Spaß gewinnen. Selbstwert erfahren.

Haben Sie Zeit! Sie ist nicht nur der wichtigste Rohstoff, wie der Lyriker Stanislaw Jerzy Lec findet. Sie ist Gottes Kredit an die Menschen. Ein Mensch, der keine Zeit hat, kennt auch kein Glück.

Überliefert ist die Geschichte jenes weißen Afrikaforschers, der es nicht erwarten kann, ins Innere des Landes vorzustoßen. Um rascher ans Ziel zu gelangen, zahlt er seinen Trägern ein zusätzliches Geld, und sie schlagen auch ein schnelleres Tempo an. Eines Abends jedoch sitzen sie alle auf dem Boden, legen ihr Bündel ab und weigern sich weiterzugehen. Nach dem Grund ihres Verhaltens befragt, antworten sie: "Wir sind so schnell gegangen, dass wir nicht mehr wissen, was wir tun. Darum warten wir, bis unsere Seele uns eingeholt hat."

"Solange der Mensch im Schlepptau Gottes war", lesen wir bei Emile M. Cioran, "kam er langsam voran, so langsam, dass er es nicht einmal wahrnahm. Seit er in niemandes Schatten mehr lebt, beeilt er sich und klagt darüber und würde alles geben, um den einstigen Rhythmus wiederzufinden."

Hans-Albrecht Pflästerer