Wie die Nase zur Zunge wird
Das Gehirn bereitet uns beim Schmecken eine Illusion.
VON JÜRGEN LANGENBACH / DIE PRESSE / 19. August 2005

GESCHMACK: 1 Sinn aus 2 Sinnen
Beim Schmecken spielen Geschmacks- und Geruchssinn zusammen, der eine sitzt im Mund, der andere in der Nase. Kombiniert werden fünf Geschmacksrichtungen (süß, sauer, salzig, bitter, "umami") und 10.000 Duftnoten.

Wenn wir uns etwas Wohlschmeckendes auf der Zunge zergehen lassen, dann erliegen wir einer vom Gehirn bereiteten Illusion: Der Geschmack wird überhaupt nicht von der Zunge erspürt, sondern von der Nase. Die Geschmacksknospen auf den Schleimhäuten des Mundes nehmen ganze fünf Geschmäcker wahr, süß, sauer, salzig, bitter und "umami", das ist ein kaum zu beschreibender Wohlgeschmack. Mehr kann der Mund nicht, für alle Raffinessen der Kochkunst ist unser Geschmack zu grob. Aber der Geruchssinn kann 10.000 Duftnoten unterscheiden, ganz egal, ob sie von vorne in die Nase steigen, orthonasal, oder von hinten, retronasal: "Der Geruch ist der einzige Sinn, der Objekte sowohl außerhalb als auch innerhalb des Körpers wahrnehmen kann", formulierte 1982 Paul Rozin, Psychologe der University of Pennsylvania.
Und er hängte eine Spekulation an: "Derselbe olfaktorische Reiz mag in zwei ganz verschiedenen Arten wahrgenommen werden, je nachdem, ob er von außen oder innen kommt." Das konnte man lange nicht prüfen, ortho- und retronasaler Geruch sind experimentell kaum zu trennen, man atmet auch beim Essen oder Weinverkosten dauernd ein und aus. Aber eine Gruppe um Dana Small (Yale University) hat einen Weg gefunden: Man hat Test-Schmeckern kleine Röhrchen von vorne und von hinten in die Nase gehängt. Durch sie konnten Duftstoffe in jeweils nur einer Richtung zu den Geruchsrezeptoren ganz oben in der Nase gebracht werden: Schokolade und Lavendel. Zugleich wurde das Gehirn beobachtet.
Das kennt die Differenz: Schokolade ist ein Nahrungsmittel, Lavendel nicht. Kommt Lavendel retronasal, wird der Duft so verarbeitet, dass er den Düften zugerechnet wird - man riecht ihn ganz bewusst mit der Nase. Die Duftmeldung "Schokolade" geht im Gehirn andere Verarbeitungs-Wege, sie wird als Geschmack interpretiert - man ist sicher, die Wahrnehmung käme aus dem Mund. Und das geht nicht nur gewöhnlichen Genießern so: "Die Illusion, dass retronasal wahrgenommene Düfte für im Mund wahrgenommene Geschmäcker gehalten werden, ist so mächtig, dass sie selbst im Experiment wirkt, wo die Testpersonen wissen, dass ein Duft in die Nase kommt", erklärt Small (Neuron, 47, S. 593).
Was von vorn in die Nase kommt, nehmen wir immer als Geruch wahr, Wein wird erschnüffelt, bevor er geschmeckt - wieder erschnüffelt - wird. Woher kennt das Gehirn den Unterschied? Es könnte sein, dass es bei einem Duft, der von außen kommt, in eine Erwartung gerät, und bei einem, der schon im Mund ist, in einen Genuss.